HoloWAS?! Permazid!

Das Wort Holocaust ist ein mächtiges und schmerzhaftes Wort. Es bedeutet „völlige Zerstörung“ und steht insbesondere für den Völkermord an Millionen von Juden und anderen marginalisierten Gruppen während des Zweiten Weltkriegs. Doch das Wort wurde, gerade international, sowohl davor als auch danach nicht ausschließlich im Zusammenhang mit diesem historischen Schrecken verwendet. Wir sprechen im Rahmen der Bedrohung durch Atomwaffen von einem „nuklearen Holocaust“ oder von einem „ökologischen Holocaust“ hinsichtlich der Zerstörung der Umwelt, somit kann man die Singularität der Begriffsverwendung auch unabhängig von der Nutzung im Tierrechtskontext in Frage stellen.

Wenn wir also von einem „Holocaust der Tiere“ sprechen, ist das kein Zynismus, sondern eine zutreffende Beschreibung dessen, was tagtäglich in Schlachthäusern, auf Farmen und in Laboren geschieht: systematisches Abschlachten, brutale Ausbeutung bis hin zur absoluten Verachtung fühlender Lebewesen. Auch wenn es dabei nicht um die abschließende Vernichtung ganzer Tierrassen oder -gruppen geht, so werden dennoch kontinuierlich Milliarden von Individuen und Familien ausgelöscht. Aus Sicht der Betroffenen ist es wohl kaum weniger grauenvoll, dass ihre Nachkommen immer und immer wieder das gleiche Schicksal erleiden. Auch die andersartige Ideologie hinter der Ungerechtigkeit dürfte aus Sicht der Betroffenen bzw. der Tiere eine untergeordnete bzw. keine Rolle spielen.

Einige kritisieren die Verwendung des Begriffs „Holocaust“ in diesem Zusammenhang, da sie die Shoah als einzigartigen Zivilisationsbruch betrachten. Zudem wird der Begriff oft von Nicht-Veganern abgelehnt, die das Ausmaß an Gewalt und Ungerechtigkeit an den Tieren und ihren Beitrag daran nicht anerkennen wollen. Der Holocaust der NS-Zeit sei nicht vergleichbar und müsse als Singularität verstanden werden. Diese Sichtweise kann jedoch dazu führen, dass wichtige Parallelen, in dem Fall das erschütternde Ausmaß an Gewalt und Ungerechtigkeit aufgrund ethisch nicht-relevanter Merkmale oder Gruppenzugehörigkeit, übersehen und Lektionen aus der Vergangenheit nicht auf andere Kontexte angewandt werden.

Schließlich wird durch ein „Nie wieder!“ gefordert, wach zu bleiben, um ähnliche Ungerechtigkeiten in Zukunft zu verhindern. Wie aber sollen solche erkannt werden, wenn nichts mit dem Holocaust verglichen werden darf? Was, wenn uns das Festhalten an der Singularitätsbehauptung daran hindert, den noch andauernden, in vielfach größerem Ausmaß stattfindenden Zivilisationsbruch zu erkennen?

Der „Holocaust der Tiere“ ist der längste, grausamste und umfassendste, den diese Welt je gesehen hat. Milliarden fühlender Wesen, die zweifellos ein Lebensinteresse haben, werden jährlich gezüchtet und getötet, ohne dass ihre Interessen ernsthaft in Betracht gezogen würden. Sie werden wie leblose Ware behandelt – vorrangig für den menschlichen Genuss und das Vergnügen. Kein anderes Wort verdeutlicht bisher ein größeres Ausmaß an Gewalt und Ungerechtigkeit, und die Nutzung dieses Begriffs zeigt auf, wie dringend wir diese systematische Ausbeutung beenden müssen.

Und doch ist das Wort „Holocaust“ selbst fast nicht mehr genug, um das Ausmaß der Vernichtung und des Unrechts zu beschreiben, das die Menschheit anderen Spezies zufügt. Vielleicht sollten wir ein neues Wort verwenden, das spezifisch die systematische, andauernde Ausbeutung und Tötung unzähliger Tiere durch den Menschen bezeichnet – „Permazid“? Denn das ist es, was wir tun: Wir züchten, beuten aus, quälen, töten und zerstören Gemeinschaften – weltweit und in Endlosschleife.

Permazid (Substantiv)
Aussprache: [ˈpɛʁmaˌtsiːt]
Definition: Der Begriff Permazid bezeichnet das andauernde (Nachzüchten und) Töten von Tieren zum Zwecke der Ausbeutung durch den Menschen. Er setzt sich aus 'permanent' (dauerhaft) und der Endung '-zid' zusammen, die aus dem Lateinischen stammt (-cidium: Tötung, -cida: Töter). Der ihm zugrunde liegende Anthropozentrismus ist bestimmt von der Haltung, menschliche Interessen in das Zentrum ethischer Überlegungen zu stellen. Darüber hinaus verweist er auf den größten und langanhaltendsten Massenmord der Geschichte, der niemals enden soll.

Dieser Begriff verdeutlicht nicht nur die Dimension der Tierausbeutung, sondern fordert auch dazu auf, die moralische Bedeutung dieser Gewalt anzuerkennen. Die Ablehnung des Begriffs „Holocaust“ für Tiere kann verschiedene Gründe haben. Manche lehnen ihn ab, weil sie glauben, er verharmlose das Leid der betroffenen Menschen oder weil er Empörung und Ablehnung hervorruft. Andere berufen sich lediglich auf ein paar grundlegende Unterschiede, wie die Auslöschungsabsicht, oder befürchten, dass die Verwendung des Begriffs strafrechtliche Konsequenzen haben und Veganern dadurch ein negatives Image als kriminell anhaften könnte. Gleichzeitig bleibt die Frage, ob die Ablehnung nicht dazu führt, dass das Unrecht an den Tieren in den Hintergrund rückt bzw. heruntergespielt und das Ausmaß an Gewalt und Ungerechtigkeit nicht (an-)erkannt wird. 

Insgesamt lassen sich viele Gründe für und gegen die Verwendung des Begriffs im Tierrechtskontext finden und eine abschließende Bewertung bzw. Empfehlung dafür oder dagegen lässt sich nur schwer solide begründen, ohne gleichzeitig andere Aspekte auszublenden. Das liegt insbesondere daran, dass viele Überlegungen diesbezüglich strategischer Natur sind – und an dieser Stelle lassen sich sowohl in der Praxis Beispiele in verschiedener Richtung finden, als auch in der Theorie unterschiedliche plausible Überlegungen darüber anstellen, was zielführend und effektiv sein kann. Abschließend klären lässt sich das kaum, was nicht davor abschrecken soll, sich mit den verschiedenen Pro und Contra diesbezüglich auseinanderzusetzen. In der Tabelle unten sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) einige der Überlegungen über die Verwendung des Begriffs, aus inhaltlicher und strategischer Sicht, aufgeführt.

Letztlich müssen wir uns fragen: Gäbe es denselben Widerstand gegen die Begriffsverwendung, wenn die Betroffenen Menschen wären, wenn wir jährlich Milliarden von Menschen in Schlachthäusern zum Zwecke der Ausbeutung töten würden? Wenn wir aus der Vergangenheit lernen wollen, dürfen wir nicht zulassen, dass semantische Hürden uns davon abhalten, den Tieren eine Stimme zu geben und das fortlaufende Unrecht als das zu benennen, was es ist – den Holocaust der Tiere, den Permazid.

Tabelle: Das Für und Wider der Verwendung des Holocaustbegriffs im Tierrechtsaktivismus

Inhaltlich
(Historisch und sprachlich zutreffend?)
Gemeinsamkeiten (Pro) Unterschiede (Contra)
Einige Methoden ähneln sich (z.B. Transport, Vergasung, Markierung, Versuche, durchorganisierte Abläufe, Tötungsabfertigung, die ‚Qualität‘ der Unterbringung, Entindividualisierung, …) Einige Methoden unterscheiden sich (z.B. gezielter psychischer Terror, Exempeltötungen, Arbeit als Tötungsmethode, Ghettoisierungen, …)
Schwere/Grad der Interessenverletzung ist ähnlich (Quälerei, Familientrennung, Vergewaltigung, (Massen-)Tötung, …). Zahlenmäßig sehr unterschiedlich. Die Menge an Opfern in der Tierausbeutung ist um ein Vielfaches größer.
Das etablierte Begriffsverständnis (vor allem in Deutschland) geht vom Holocaust als einzigartigem Begriff für die Shoah aus, nicht von einer „allgemeinen Kategorie“.
Ideologie der Ausrottung. Die Absicht, andere Gruppen auszulöschen, ist nur bei der Shoah gegeben, wohingegen die Tierausbeutung immer weiter gehen soll.

Strategisch
(Was kann damit bewirkt werden?)
Pro Contra
Die befürchtete Abwertung von Menschen/Betroffenen oder auch Ungerechtigkeiten/Ereignissen kann als Anlass genommen werden, zu besprechen, warum es eine Abwertung von Menschen darstellt. Dadurch kann es ein Aufhänger für eine Diskussion sein, die zu einem tieferen Verständnis von Speziesismus und dem Mensch-Tier-Verhältnis führen kann. Vergleich von Menschen mit Tieren bzw. die Zuschreibung tierischer Eigenschaften wurde genutzt, um Betroffene der Sklaverei, des HCs etc. zu entmenschlichen. Entsprechende Vergleiche können damit einen wunden Punkt treffen und als Abwertung von Menschen verstanden werden.
Kein anderes Wort verdeutlicht bisher ein ähnliches oder größeres Ausmaß an Gewalt und Ungerechtigkeit (AGU). Da man durchaus feststellen kann, dass das AGU ggü. Tieren ähnlich groß, wenn nicht sogar wesentlich größer ist, wäre schlicht kein Begriff allein besser in der Lage, das AGU an den Tieren zu verdeutlichen. Die Nutzung des Begriffs wird ja gerade deswegen angewandt, weil der Holocaust als das ultimative Böse gesehen wird. Die Nutzung ist ein Zugeständnis daran. Viele erkennen das Ausmaß an Gewalt und Ungerechtigkeit in der Tierausbeutung nicht an und empfinden den Vergleich daher als Verharmlosung der Shoah.
Da das Wort bereits etabliert ist, kann es eingängig vermitteln, welche Schwere, welches Ausmaß wir postulieren. Die Verwendung des Begriffs könnte je nach Kontext strafbar sein und damit auch zu Imageschäden führen.
Die Betroffenheit der Menschen kann genutzt werden, um den strukturellen/sozialisierten Speziesismus zu adressieren. Denn: Würden wir uns derart angegriffen fühlen, wenn es Konsens wäre, dass das AGU in der Tierausbeutung mindestens genau so groß ist? Wie würden wir auf den Begriff reagieren, wenn auf den Höfen und in den Schlachthäusern Menschen ausgebeutet und getötet würden? Stellenweise Gefahr der unehrlichen Kommunikation, da die Einsicht fehlt, dass es häufig um den Schockwert geht. Man möchte den Schrecken mit der Tierausbeutung verbinden, man will die Emotionen. Und damit geht es nicht um einen sachlichen Mehrwert, sondern um einen Effekt.
Der Vergleich erschwert es Nicht-Veganern, Tierausbeutung als moralisch wenig schwerwiegend abzutun. Es fällt vermutlich vielen leichter zu sagen, dass man für Tierausbeutung mitverantwortlich ist als für einen Holocaust. Auch aus der Verzweiflung heraus, dass andere Menschen der Tierausbeutung bei üblichen bzw. deskriptiveren Begriffen eher gleichgültig ggü. stehen, kann die Verwendung von Begriffen wie Holocaust oder Sklaverei dabei helfen, diese Gleichgültigkeit zu durchbrechen. Überforderung. Der Begriff überstrapaziert in dem Kontext eine noch immer sehr anthropozentrische Gesellschaft.
Das Wort emotionalisiert, polarisiert und hält dadurch das Thema im Gespräch. Die Provokation und Kontroverse können vom eigentlichen Thema ablenken.
Wenn man die Singularitätsbehauptung ernst nimmt, führt das dazu, dass man keine Parallelen mehr ziehen kann, und somit die Chance verpasst, daraus zu lernen. Und der Holocaust erhält seine Sonderstellung erst durch den Vergleich zu anderen Barbareien.
Verschiebt das Fenster des „Sagbaren“. Als davor extrem geltende Positionen/Bewertungen oder Begriffe erscheinen dann als milder und werden ggf. eher angenommen.
Die Ablehnung des Begriffs kann als Signal des Runterspielens der Bedeutung bzw. des AGU in der Tierausbeutung verstanden werden und damit fehlende bzw. weniger Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit suggerieren.
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“Alles ist politisch”…?